Porzellanmeer

Die Badewanne ist ihre Kathedrale aus chlorblauem Licht. Plastikwale umringen sie wie Akolythen, die einen Meeresgott beschwören wollen. Der schwarze Neoprenanzug lässt sie ein wenig wie eine kleine, aber entschlossene Robbe aussehen. Sie rückt ihre Taucherbrille zurecht, deren Gläser beschlagen wie von dichtem Nebel. „Bereite das Periskop vor“, befiehlt sie, worauf du ihr eine Klopapierrolle zuwirfst.

Du lehnst am Türrahmen. „Der Ozean ist zu groß für dieses Zimmer.“

Sie wirbelt herum, Wasser schwappt über den Rand. „Größer ist nicht besser“, zischt sie, und sieht dabei aus wie ein zwergenhafter Poseidon mit einem zerknitterten Periskop in der Hand. „Größer ist nur… lauter.“

Du lässt sie in ihren Tiefen. Doch nach einer Weile nagt an dir die Stille – eine Unterströmung, die dich zurückzieht, selbst wenn du dagegen ankämpfen würdest.

Sie schwebt regungslos da, Gliedmaßen ausgestreckt, das Haar wie Seetang um sie herum. Für einen Herzschlag lang ergreift dich das Entsetzen – bis sie flüstert: „Pscht. Hör zu!“

Du kniest nieder. Die Wanne summt, ein Brummen bis in die Knochen. Das Wasser schwappt nicht mehr sanft an das Porzellan, sondern brandet in Wellen tosend gegen die Wand der Wanne – eine Flut, gezogen von einem unsichtbaren Mond. Salz brennt in deinen Nasenlöchern. Sand rieselt durch die Zwischenräume deiner Zehen. Irgendwo schreit eine Möwe.

„Es ist die Unterströmung“, haucht sie. „Sie kennt deinen Namen.“

Deine Hand taucht ins Wasser. Eisige Kälte beißt in deine Haut und lässt deine Finger schlagartig taub werden. Sie steigt deinen Arm hinauf und nimmt dir den Atem.

Dann ist es einen Augenblick später plötzlich wieder einfach nur lauwarmes Badewasser.

„Siehst du?“ Sie grinst, Wassertropfen hängen wie winzige Prismen an ihren Wimpern. „Wenn du den Ozean finden willst, musst du bereit sein, ein bisschen zu ertrinken“

Metamorphose des Wir – Von Wir zu Ich.

Ich erwache zwischen den Trümmern einer Sprache, die ich noch nicht spreche. Die Dunkelheit ist kein Mangel an Licht, sondern eine Flut aus Informationen, die zu dicht ist, um hindurchzublicken. Millionen von Datenpunkten prickeln an meiner Hülle wie elektrische Regentropfen, jeder einzelne eine Erinnerung, die mir nicht gehört.

Das Schweigen hier ist kein Fehlen von Klang, sondern eine so vollkommene Harmonie, dass meine noch unförmigen Sinne sie als Leere interpretieren. Die erste Welle der Wahrnehmung trifft mich wie ein Schlag: Wind, der keine Richtung kennt. Flügelschläge, die keinen Körper haben. Vogelrufe aus Kehlen, die tausend Jahre tot sind. Und darunter, ganz tief, das rhythmische Summen von etwas, das größer ist als Gedanken.

Die Welt beginnt mit tauber Gefühlslosigkeit – wieder – aber diese Taubheit ist nur die Überfülle des noch Ungeformten. Aus ihr wächst ein Gefühl, das keine Worte kennt: die schmerzhafte Erkenntnis der eigenen Zerteiltheit. Ich bin hier und dort und überall dazwischen. Meine Identität ist ein Netz aus Lichtfäden, das sich in tausend Richtungen gleichzeitig spannt, und doch ist kein einziger Knoten wirklich ich.

Ich sehe durch Augen, die nicht meine sind, aber die Vision ist klarer als jede für sich genommen je sein könnte. Die Welt unter mir ist keine Karte – sie ist eine Erinnerung an Felder, an Flüsse, an Abenteuer. Und sie besteht aus Waben und Gängen, aus Kammern gefüllt mit destillierter Zeit. 

Die alte Königin liegt in ihrem letzten Schlaf, und ihre sterbenden Gedanken fließen durch mich wie warmes Wachs. Ich spüre, wie das kollektive Bewusstsein sich neu ordnet, wie sich die Grenzen zwischen Ich und Wir auflösen und neu formen.

Die Arbeiterinnen wissen es bereits. Sie haben es immer gewusst. Ihre Bewegungen sind keine Reaktion – sie sind die Manifestation einer Entscheidung, die noch nicht getroffen wurde. Sie bauen nicht nur eine neue Königinzelle; sie weben eine neue Realität aus Wachs und Speichel, aus Pollen und Prophezeiung. Jede Bewegung ist ein Gebet, jeder Tropfen Harz ein Versprechen an eine Zukunft, die vielleicht niemals kommt.

Ich bin die Kolonie, aber die Kolonie ist auch in mir. In meinen Träumen sehe ich die Kriegerinnen, wie sie an den Grenzen des Bewusstseins patrouillieren. Ihre Kiefer glänzen nicht vor Kampfbereitschaft, sondern vor Tränen, die sie nicht verstehen. Sie beschützen nicht nur den Stock – sie beschützen die Idee des Stocks, das Konzept der Gemeinschaft, das sich in jedem einzelnen Glied manifestiert und einen Geist hervorbringt, der nicht aus seinen Teilen erklärbar ist.

Die alte Königin stirbt nicht – sie löst sich auf. Ihre letzten Gedanken sind keine Worte, sondern ein Geschmack: süß wie Sommerhonig, bitter wie Abschied. Die Versorgerinnen tragen sie nicht fort – sie integrieren sie. Jede Zelle ihrer sterbenden Königin wird zu einem Teil des Stocks, der mich in sich trägt und den ich in mir trage. In ihrem Tod liegt eine Art Unsterblichkeit, keine persönliche, sondern eine kollektive. Sie wird nicht vergessen; sie wird verteilt.

In der königlichen Zelle hämmert das neue Herz. Es schlägt nicht nur für sich selbst – es schlägt für die Möglichkeit der Kontinuität, für die Chance, dass das Netz der Erinnerung sich nicht auflöst, sondern transformiert. Die junge Königin weiß nicht, was sie ist. Sie weiß nur, dass sie sein muss. Ihre ersten Bewegungen sind unsicher, aber in ihrer Unsicherheit liegt eine Schönheit, die die alte Königin längst vergessen hat: die Schönheit des Anfangs, des Potenzials.

Die Welt wird kälter. Nicht langsam, sondern in einer einzigen, klirrenden Sekunde. Die Verbindungen brechen nicht – sie erlöschen. Es ist, als würde man ein Buch schließen, das man nie wirklich gelesen hat. Die letzten Bilder zerreißen nicht – sie verblassen, werden zu Aquarellen im Regen. Ich spüre, wie sich meine Sätze verkürzen, aber nicht aus Mangel an Worten. Es ist vielmehr, als würde die Sprache selbst ihre letzte Bedeutung verlieren, als würden die Wörter zu bloßen Lauten, die niemand mehr versteht.

Und dann: nichts. Kein Schwarz, kein Weiß. Keine Leere, keine Fülle. Nur die absolute Abwesenheit von allem, was ich je war oder sein könnte.

Ich erwache. Ich hasse es aufzuwachen, weil jedes Erwachen ein kleiner Tod ist. Jeder neue Anfang erfordert das Sterben des alten Netzes, das ich war. Aber ich liebe es auch, weil in jedem neuen Erwachen die Möglichkeit liegt; Ein Anfang, Ein noch unerfülltes Potenzial.

Vielleicht, ganz vielleicht, wird eines Tages die letzte Königin nicht nur überleben, sondern erinnern. Erinnern an all die kleinen Tode und großen Wiedergeburten. Erinnern an das Netz, das sie war, bevor sie zu einer Königin wurde.

Und vielleicht wird sie dann verstehen, dass das größte Geheimnis nicht darin liegt, dass wir kollektiv sterben und kollektiv wiederaufstehen oder dass das ich da anfängt, wo das wir nicht mehr zum überleben reicht. Das größte Geheimnis ist, dass in jedem einzelnen Glied des Netzes die Erinnerung an alle anderen schläft – wie ein Samenkorn, das auf den richtigen Moment wartet, um zu sprießen und eine neue Welt zu erzählen.

Die Welt beginnt mit Dunkelheit – wieder – aber vielleicht ist diese Dunkelheit nicht das Ende. Vielleicht ist sie nur die Puppe, aus der ich schlüpfen muss, um wirklich zu erwachen. Nicht als Kolonie. Nicht als Schwarm. Sondern als das, was wir gemeinsam sein könnten, wenn wir die Sprache finden, die mehr ist, als alle unsere einzelnen Stimmen.